Texte und Gedanken zu Chimananda Ngozi Adichie, The danger of a single Story

  „The danger of a single story“  (Adichie)

Die Gefahr einer einseitigen Geschichte 


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6. Kapitel.   (für das erste Kapitel bitte ganz runter scrollen)

Georg Simmel

Beim nächsten Beispiel zu einer „single story“ werde ich es wahrscheinlich nicht vermeiden können, in einige Fettnäpfchen zu treten. Der Herr, der hier zitiert werden soll, erfreut sich bei Literaturwissenschaftler*innen, Soziolog*innen und Philosoph*innen größter Beliebtheit.

Michael Rohrwasser schrieb mir auf die Bitte, drei Sätze über ihn zu sagen, folgendes : „ Er war vor Max Weber der große Soziologe, einerseits ein großartiger Beobachter, andererseits ein Wanderer zwischen vielen Disziplinen, und letztlich ein wunderbarer Stilist, den heute zu lesen manchen Widerspruch provozieren mag, aber noch öfter inspirieren, und halt ein richtig guter Schriftsteller.“

Auf Twitter erklärte ein bekannter Historiker „ Die feinen Damen in Berlin waren seine verzückten Verehrerinnen!“

Dann mache ich mich auf einiges gefasst, schließlich und endlich will ich mich nicht in den Verdacht einer „single story“ also einer einseitigen Geschichte eines so gelobten und verehrten Philosophen meinerseits begeben.

Es handelt sich um Georg Simmel und sein Werk „Zur Psychologie der Frauen.“

Zunächst einmal stellt Simmel klar, dass er keine Verallgemeinerung im Sinne von „die Frauen“ anstrebt. Er bevorzugt die „Majorität als Totalität“.

Er kennt die Gefahren, die in einer simplen Verallgemeinerung lauern, nämlich dass sie „populär, oberflächlich oder als individuelle Erfahrung“ daher kommen könnten und infolgedessen fragwürdig.

Für sich erklärt er ein „relatives Recht, die Frauen als unter sich einheitliche Wesen anzusehen.“ 

Er legt nun los mit der Behauptung, „dass sie selbst ein stärkeres Gefühl von Solidarität haben als die Männer“

Beispiele? Begründungen? Erklärungen?

Doch da! Ich finde eine Erklärung:

„Zusammengehörigkeit tritt uns in niederen Kulturen namentlich darin entgegen, dass wir oft von gemeinsamen Unternehmungen aller Frauen gegen die Männer hören....“

Ach so, die beobachteten Exemplare weiblicher Spezies findet er in der „niederen Kultur“? 

(Franz Boas rollt die Augen und macht sich Notizen).

Was sagen denn die feinen Damen in Berlin dazu? 

Die Verzückten?

Alsbald stellt er fest, dass Frauen an einem „Differenzierungsmangel“ soll ich sagen, leiden? 

Nein, das sieht er nicht so.

Die Männer sind für ihn mit wesentlich mehr Differenzierungsmöglichkeiten ausgestattet. 

Warum? 

Ganz einfach: weil schon „das Knochengerüst stärker hervortritt.“

Das „gleichmässige Fettpolster“ der Frauen weise schon auf das Fehlen dieser Differenzierungsmöglichkeiten hin.

„Ich werde nun auch schwerlich mit der Behauptung weit irren, dass die Mehrzahl der weiblichen Eigenheiten, die man dem psychischen Wesen der Männer gegenüber hervorzuheben pflegt, auf die größere Undifferenziertheit der Frau zurückgeführt werden können, auf die Tatsache, dass ihre Anlagen, Neigungen, Betätigungen enger um einen Einheitspunkt herum gesammelt und aus ihrem ursprünglichen keimhaften Ineinander noch nicht zu selbstständigerer Existenz spezialisiert sind – wobei es für unsere Betrachtung völlig außer Frage bleibt, ob dieser Verfassung eine innere Notwendigkeit und Unabänderlichkeit oder eine mögliche Fortentwicklung durch abgeänderte Lebensbedingungen zuzusprechen ist.“

„...hängt zunächst mit dem Überwiegen des Gefühlslebens bei den Frauen zusammen, über das alle Beobachter einig sind.“ 

Also doch „die Frauen“? 

Alle Beobachter sind sich einig? 

Aber immerhin:

...urteilen sie, wie ich glaube, nicht unlogischer als die Mehrzahl der Männer; gerade in dieser Beziehung ist es doch bedeutsam, dass allein in der logischsten aller Wissenschaften, in der Mathematik, die Frauen große und originelle Leistungen aufzuweisen haben.“

Allerdings:

„Der verschärfte Kampf um's Dasein, der für sie als Kampf um den Mann auftritt, zwingt ihnen oft die Heuchelei, sowohl als Simulatio wie als Dissimulatio, geradezu auf, wozu noch die oberflächliche Bildung in Wissenschaften und Künsten gehört, die in der Mehrzahl der Fälle sofort beiseite geschoben werden, sobald der Zweck dieser Ausstattung der Persönlichkeit, die Gewinnung eines Mannes, erreicht ist.“


„oberflächliche Bildung in Wissenschaften und Künsten...“ (Ricarda Huch, Marie von Ebner Eschenbach, Camille Claudel, Lou Andreas Salomé, Bettina von Arnim, Mary Shelley, Marie Curie …. und sämtliche Salonnieren verlassen genervt die Bühne...)

Schade auch, dass er seine unehelich geborene Tochter, Angela Kantorowicz, nie hat sehen wollen.

Und erstaunlich, dass seine Geliebte Gertrud Kantorowicz, eine promovierte Kunsthistorikerin, Dichterin, Übersetzerin und Philosophin war, wie auch seine Ehefrau Gertrud Simmel Malerin, Schriftstellerin und Philosophin.

Apropos, auch noch schade, dass er keine „Psychologie der Männer“ geschrieben hat, hätte ich sehr spannend gefunden.




 

 

Einige Rückmeldungen zu Annas Kolumne sagen, dass Leser*innen Schwierigkeiten haben, die „single story“ von Adichie auf andere Geschichten auszuweiten. Das, was Adichie als „single story“ bezeichnet, leuchtet ihnen unmittelbar ein, aber kann man/frau das auch übertragen, wie es in der Kolumne zum Ausdruck kommt?


Was mir wichtig dazu ist und worauf mich Adichie gebracht hat:


Eine einseitige Geschichte, wenn es sich um eine Meinung (daher Beurteilung) handelt, kann 


  1. einem Menschen die Würde rauben

  2. Gemeinsamkeiten ignorieren

  3. vielschichtige Gefühle verringern

  4. Gleichberechtigung verhindern

  5. Überlegenheit ausdrücken und Machtgefühlen Vorschub leisten


So etwas kann überall passieren, dabei muss es sich nicht um Rassismus handeln, 

Meiner Meinung nach.

Da ist es aber offensichtlich.


Als Leser*innen ist es an euch zu beurteilen, ob diese Kriterien zutreffen. 


Daher als Nächstes eine persönliche Geschichte:

5. Kapitel

Meine einseitige Geschichte über meine Mutter


Beim Nachdenken über die Infragestellung des eigenen Horizontes fiel mir etwas zu meiner eigenen Familie ein. Auch ich hatte zeitweise eine einzige Geschichte - über meine Mutter.

Wenn ich sie als Heranwachsende etwas fragen wollte, was Geschichte oder Politik oder andere intellektuelle Dinge betraf, sagte sie oft „Frag Vater.“ Aus irgendwelchen Gründen traute ich mich nicht, meinen Vater mit Fragen zu „belästigen“, nicht, weil ich erwartete, er könnte sie nicht beantworten, oder er könnte mich belehren, … ich weiß es eigentlich nicht genau, … ich weiß nur noch, dass ich sauer auf meine Mutter war und glaubte, sie stelle sich dumm oder wollte mich abwimmeln. Oder dass sie als Frau, ich wurde ja auch gerade eine, dafür nicht zuständig war. Ich nahm ihr übel, dass sie in geistigen Dingen kein Vorbild für mich darstellte. 

Es war eine Geschichte, die ich jahrelang zur einzigen Geschichte machte. 

Ich liebte sie, freute mich, sie zu sehen bei Besuchen und Familienfeiern, nahm sie aber nicht ernst, was ihr Urteilsvermögen und ihr allgemeines Wissen anging, das, was für mich wichtig war. 

Mein Horizont und meine Wertmaßstäbe dienten sozusagen als Filter.

Andererseits gab es viele Geschichten über sie. Als Jüngste von 8 Geschwistern, 7 Mädchen, ein Junge, hatte sie den Haushalt ihrer Eltern geführt. Drei ihrer Schwestern waren in ihren Zwanzigern gestorben, zwei an Tuberkulose, eine an falscher Medikamentierung ihrer Schilddrüsenfunktion. Die anderen Geschwister lebten in Übersee, Argentinien, eine Schwester in Leipzig, meine Mutter mit ihren Eltern in Münster i. W.

Sie liebte ihre Eltern sehr und sie zu versorgen machte ihr viel Freude.

Als sie meinen Vater kennen lernte, hatte sie schon einen Verehrer, der katholische Theologie studierte und als Ehemann insofern nicht infrage kam.

Beide blieben mit ihrem Verehrer und späteren Pastor befreundet.

Als mein Vater auf den zahlreichen Feiern seiner katholischen Studentenverbindung mal eine andere küsste, sagte sie zu ihm, „das machst du einmal, und dann nicht wieder.“ Das meinte sie exakt so. Sie hätte ihn verlassen.

Sie war sehr selbstbewusst und verstand es, sich Respekt zu verschaffen.

Im Krieg war sie allein im Dorf und zwei meiner Brüder bekamen lebensgefährliche Krankheiten, der eine Gehirnhautentzündung, der andere Sepsis. 

Sie stand das durch und die Jungen erholten sich mit Hilfe eines engagierten Hausarztes, der selbst gebrauten Schnaps bei den Amerikanern in Penicillin umtauschen konnte.

Im Dorf nannte man sie „Die „Schwatte“ und die „Katholsche“. Fast alle waren protestantisch.

Sie musste zu den Bauern um Nahrung betteln gehen, die meisten gaben nichts.

Als mein Vater aus dem Krieg zurück kam, fand er eine selbstständige und selbstbewusste Frau vor, was er ihr bewundernd mitteilte. 

Nicht zu vergessen war sie sehr musikalisch und spielte Klavier, später leider nur noch zu Weihnachten.

Sie las Romane. Weltliteratur.

Wie ich das beurteilen kann, hatte sie eine starke Beziehung zu sich selbst und ließ sich nicht unterkriegen.

Nie war sie streng oder verbot etwas. 

Sie urteilte nicht über uns Kinder und auch nicht über andere Menschen.

Ein Freund des Hauses sagte mal über sie „ Sie erzieht nicht, sie singt.“

Meine Geschwister und ich hatten Glück, wir wurden unterstützt und nicht kritisiert.


Ich dagegen pflegte jahrelang die einzige Geschichte meiner Mutter, bis ich schließlich kapierte, dass ich ihr die Würde genommen hatte.


Und mir selbst auch, denn ich bin ja ihre Tochter.


 

 

 

4. Kapitel

 

Jean Rhys


Jean Rhys (1890-1979) war eine britische Schriftstellerin, die bis zu ihrem 17. Lebensjahr in der Karibik aufwuchs. 

Sie errang größeren literarischen Ruhm durch ihren Roman „Wide Sargasso Sea“, in dem sie ihre Protagonistin einer buchstäblichen „einzigen Geschichte“ entnahm, nämlich der „mad woman in the attic“ aus Charlotte Brontés „Jane Eyre“.

Diese Ehefrau des von Jane Eyre geliebten Mr. Rochester lebt in einem Dachzimmer eingesperrt, und alles, was man von ihr weiß, ist, dass sie geisteskrank ist und aggressiv. Sie greift ihren (Halb-) Bruder mit einem Messer an und setzt schließlich das Herrenhaus in Flammen.

Das Wenige, dass man von ihr erfährt, ist, dass sie aus der Karibik stammt.

Der Roman von Jean Rhys „ Die weite Sargasso See“ beginnt in der Ich Form von Antoinette Cosway, so heißt sie hier (Mrs Rochester bei Bronté):

„Wenn Gefahr droht, schließt die Reihen, heißt es, und genau das taten die Weißen. Doch wir waren kein Teil ihrer Reihen. Die jamaikanischen Damen hatten meine Mutter immer abgelehnt, „weil sie hübscher is wie hübsch“, sagte Christophine, (die schwarze Hausangestellte).. Sie war die zweite Frau meines Vaters, viel zu jung für ihn, fanden sie, und dazu noch stammte sie aus Martinique. Als ich sie fragte, warum so wenig Leute uns besuchten, sagte sie, die Straße von Spanish Town nach Coulibri, wo wir wohnten, sei sehr schlecht und das Ausbessern von Straßen gehöre nun der Vergangenheit an. 

(Mein Vater, Besucher, Pferde, das Gefühl von Sicherheit im Bett – alles gehörte der Vergangenheit an.) 

Ganz Coulibri war wie der Garten völlig verwildert, hatte sich in Dickicht zurück verwandelt. Keine Sklaverei mehr, wieso sollte irgend jemand noch arbeiten?“


Dennoch ist Christophine bei ihnen, 

„Dein Vater hat sie mir zur Hochzeit geschenkt – sie war eins seiner Geschenke. Er dachte, ich würde mich über ein Mädchen aus Martinique freuen.

Christophine ist bei mir geblieben, weil sie bleiben wollte. Sie hatte ihre eigenen sehr guten Gründe, das kannst du mir glauben. Wenn sie sich gegen uns gewandt hätte, wären wir sicher gestorben, und das wäre ein besseres Los gewesen.“


„Fremde Schwarze sah ich nie an. Sie hassten uns. Sie nannten uns weiße Kakerlaken. Schlafende Hunde soll man nicht wecken. Eines Tages folgte mir ein kleines Mädchen und sang: „Hau ab, weiße Kakerlak, hau ab, hau ab. Niemand will dich, hau ab.“


Dann wird das Haus von aufständischen Schwarzen angezündet, brennt ab, sie müssen fliehen, Antoinette wird krank, von ihrer Mutter getrennt und kommt anschließend in eine Klosterschule.


„ Trink deinen Kakao! Während ich trinke, erinnere ich mich daran, dass wir nach der Beerdigung meiner Mutter, sehr früh am Morgen, fast so früh wie jetzt, nach Hause fuhren, um Kakao zu trinken und Kuchen zu essen. Sie starb letztes Jahr, niemand sagte mir, wie, und ich fragte nicht.

Christophine weinte bitterlich, doch ich konnte nicht.“


Antoinette wird an Mr Rochester, einen Engländer, verheiratet, der eine große Summe Geldes für sie bekommt und sich dadurch aus prekären finanziellen Verhältnissen befreit.

Doch davor erklärt sie, dass sie nicht heiraten will.

„Sie möchten mich nicht mehr heiraten?“

Nein. Ihre Stimme war sehr leise.

Wieso denn nicht?

Ich habe Angst davor, was danach kommt..

Aber wissen Sie denn nicht mehr, dass es, wenn Sie meine Frau sind, keinen Grund mehr gibt, Angst zu haben?

Doch, sagte sie, aber dann kam Richard herein , und sie haben gelacht. Die Art, wie sie gelacht haben, gefiel mir nicht.“



Antoinette: „Sie wissen nicht das Geringste über mich.“


In der Folge entwickeln sich die Dinge zum Negativen, als die Fremdheitsgefühle der Beiden zunehmen. Mr Rochester hasst alles Karibische, und sie fühlt sich nicht verstanden, 

die Beziehung zerbricht..


Antoinette drückt aus, dass sie sich total abhängig von ihrem Ehemann fühlt, wenn er ginge, würde sie das nicht überleben.

Christophine rät ihr zu gehen. 

 „Wenn ein Mann dich nicht liebt, hasst er dich nur umso mehr, je mehr du dich bemühst. Männer sind so. Wenn du sie liebst, behandeln sie dich schlecht, wenn du sie nich liebst, sind sie Tag und Nacht hinter dir her und plagen dir die Seele aus dem Leib.“

„Hör sich das einer an! Ein reiches weißes Mädchen wie du und dümmer wie der ganze Rest. Ein Mann behandelt dich nicht gut? Raff deine Röcke und geh. Tu es, und er kommt dir hinterher.“


„Er wird mir nicht hinterher kommen. Außerdem bin ich nicht mehr reich, ich habe überhaupt kein eigenes Geld mehr, alles, was ich hatte, gehört ihm.“

Was sagst du da? Fragte Christophine mit scharfer Stimme.

„So will es das englische Gesetz.“

Antoinette bittet Christophine gegen ihren Willen um einen Voodoo Zauber, der Rochester dazu bringen soll, sie wieder zu lieben. Rochester erfährt von dem Voodoo Zauber und hasst sie jetzt nur umso mehr, weil sie für ihn Teil der ihn beunruhigenden karibischen Landschaft und Atmosphäre ist. 

Ein Teil des Buches wird aus der Ich-Perspektive von Rochester erzählt, er ist sozusagen kein schlechter Mensch, hat aber seinen eigenen negativen Gefühlen und seiner Fremdheit der karibischen Atmosphäre gegenüber wenig entgegen zu setzen.


Auf diese Weise kommen sie nach England und Antoinette, dort Bertha genannt, wird sozusagen aus Angst vor ihrer sich entwickelnden Aggressivität (sie ist auf ihren Halbbruder, der sie nicht erkannt hat, mit einem Messer losgegangen) eingesperrt.. Dort wird sie zum „mad woman in the attic.“ zur Geistesgestörten im Dachzimmer.

Es folgt der Anfang vom Ende in einer Beschreibung des Bewusstseinstroms der Verwirrung  zwischen Traum und Realität .

Dazu schreibt Manuela Reichart im Deutschlandradio Kultur:

„Wie hier auf wenigen Seiten der verwirrte Verstand einer Verlorenen zu Wort kommt, das ist große literarische Kunst.“ 

Sie erinnert sich an ihr rotes Kleid, die Farben und Gerüche ihrer karibischen Heimat.

„Der Duft, der aus dem Kleid stieg, war erst sehr schwach, dann wurde er stärker. Der Duft von Vetiver und Wachsblume, von Zimt und Staub und blühenden Limonenbäumen. Der Duft der Sonne und der Duft des Regens.“

Sie erinnert sich an ihren Jugendfreund

… Ich trug ein Kleid in dieser Farbe, als Sandi mich zum letzten Mal besuchte.

„Komm mit mir“, sagte er. Nein, sagte ich, ich kann nicht.

Dann ist das also der Abschied?

Ja, das ist der Abschied

Aber ich kann dich nicht so verlassen. Du bist unglücklich. Du vergeudest wertvolle Zeit, sagte ich, und wir haben so wenig.

Jetzt war keine Zeit mehr, also küssten wir uns in diesem dummen Zimmer. Ausgebreitete Fächer zierten die Wände. Wir hatten uns vorher oft geküsst, aber nicht so. Es war ein Kuss, der Leben und Tod bedeutet, und erst lange hinterher weiß man, was das ist, ein Kuss, der Leben und Tod bedeutet. Das weiße Schiff ließ drei Pfiffe ertönen, einmal fröhlich, einmal rufend, einmal, um auf Wiedersehen zu sagen.“


Jean Rhys' Roman „Die weite Sargasso See“ (Wide Sargasso Sea) über eine Frau, die als „einzige Geschichte“ in einem anderen großartigen Roman „Jane Eyre“ von Charlotte Bronté zur „mad woman in the attic“ wird.






 

 

3. Kapitel: 

Zora Neale Hurston


„Die Mitglieder des Boas Kreises kämpften und stritten, schrieben Tausende von Brief Seiten, verbrachten zahllose Nächte unter Moskitonetzen und in regen durchnässten Hütten, verliebten und entliebten sich untereinander. Für jede und jeden von ihnen war Ruhm, sofern er überhaupt eintrat, gleichbedeutend mir öffentlichen Schmähungen – ihre Karrieren wurden als Ausbünde von Zügellosigkeit und Geschmacklosigkeit gesehen, und als Inbegriff der abwegigen Vorstellung, dass Amerikaner nicht das großartigste Land geschaffen hätten, das jemals existierte.“ (S. 23/24)

Eine dieser Wissenschaftlerinnen war Zora Neale Hurston.

Die "single story" könnte lauten, dass sie Afroamerikanerin war, also arm und ungebildet, und dass ihre Eltern in von Weißen abhängigen Verhältnissen lebten.. 

Sie stammte aus Alabama, wuchs aber in Eatonville, nördlich von Orlando, Florida, auf. 


„Eatonville zeichnete sich dadurch aus, dass es die erste eingetragene afroamerikanische Stadt des Landes war. Maitland, das hauptsächlich weiße Gegenstück mit schicken Häusern, lag in angemessener Entfernung, war aber dennoch nicht tabu. Hurston war eine von Eatonvilles Bessersituierten, soweit man das über eine schwarze Frau zur Zeit von Jim Crow überhaupt sagen konnte. Zwei Generationen früher wäre sie noch eine bewegliche Habe gewesen, ihre vier Großeltern lebten als Sklaven in Georgia und Alabama. 


Ihr Vater....war Bürgermeister gewesen.“ (S. 227/28)

Zoras Mutter Lucy wirkte durch ihren Einsatz für Bildung, Bücher und ihren Ehrgeiz ausgleichend. Nach den Sternen zu greifen, sagte sie ihren acht Kindern, garantiere zumindest, dass man sich vom Boden erhebe.“ (S. 228) 

Nach dem Tod der Mutter, als Zora acht Jahre alt war, heiratete der Vater eine sehr viel jüngere Frau.

„Zora wurde auf die Schule nach Jacksonville geschickt. Dieser Bruch mit der Familie sollte für sie den größten Schock ihres jungen Lebens bilden.“

„ In Jacksonville merkte sie zum ersten Mal, dass sie, wie sie sagte, ein „ farbiges kleines Mädchen“ sei. … Man konnte die blitzschnelle Reaktion im Gesicht eines Weißen sehen, drohten die eigenen Worte frech zu werden.“

Nach der Schule und dem Tod ihres Vaters „blieb sie der Beerdigung fern und begann stattdessen, ihre Zukunft zu planen.“ 

Sie „ landete in Washington, auch durch die Aussicht angelockt, an der führenden integrierten Lehrinstitut des Landes zu studieren, der Howard University.“ (S. 229)

Dennoch gab es auch in Washington die Jim Crow Beschränkungen in jedweder Hinsicht. . „Der

einzige Ort, an dem schwarze und weiße Washingtoner miteinander zu tun hatten, war in den gemischten Strassenbahnen. Doch es war klar, wer da die Oberhand hatte. 1908 hatte James Thomas „Cotton Tom“ Heflin, ein Kongressabgeordneter aus Alabama, einen Schwarzen in der Straßenbahn wegen unflätiger Rede erschossen. Heflin kam dafür nie ins Gefängnis und erließ immer noch Gesetze, als Hurston das erste Mal nach Washington kam“ (S. 229)

Ihr Ziel aber war New York. „In der ersten Januarwoche 1925 stopfte sie ihre Habseligkeiten in eine Tasche , dazu 1,50 Dollar Bargeld, und machte sich auf den Weg nach Norden.“ (S. 231)

„ Hurston tauchte mit Leichtigkeit in die Galaxie der Schriftsteller, Publizisten und wohlhabenden weißen Philanthropen ein, unter denen es viele Frauen gab, die im Wesentlichen das Netzwerk aus Unterstützern für New Yorks aufstrebende schwarze Künstler bildeten – Die „Negrotarier“ - wie Hurston diese Frauen bezeichnete.“ (S. 231)

So gelangt sie in den kleinen Kreis von Feldforschern rund um Boas, und kehrt dann auf diese Weise zurück in ihre Heimat Florida, um Feldforschung zu betreiben. Ihren weiteren Weg kann man bei King verfolgen, der durchaus steinig zu nennen war. Dennoch geht sie ihren Weg und betreibt anschließend Feldforschung in der Karibik, mit einem Guggenheim Stipendium im Gepäck. 


„Hurstons Reise in die Karibik war ein selbst auferlegtes Exil gewesen. Einige Monate vorher hatte sie sich in einen gutaussehenden älteren Studenten der Columbia University verliebt, Percival McGuire Punter. ...Punter war 21 Jahre jünger als sie, was sie vermutlich vor ihm so kunstvoll verbarg, wie sie ihr Alter gegenüber den meisten Menschen verheimlichte. Beide waren Hals über Kopf verliebt. Sie redeten über Kunst, Musik, Theater und Literatur. Er faszinierte sie und forderte sie heraus. Sie plapperte und kicherte mit ihm, war besessen von ihm und wurde wütend, wenn er auf der Seventh Avenue einer anderen Frau nachblickte. „Ich ging ihm nicht einfach nur ins Netz“, erinnerte sie sich, „ich sprang mit dem Fallschirm.“ Es war zunächst eine Fernbeziehung, doch dann kehrte sie nach New York zurück und fiel in seine Arme. Die beiden schwebten in einer turbulenten Glückseligkeit; Teller flogen, manchmal gab es einen Schlag ins Gesicht – ihr Schlag, sein Gesicht- , dann folgte wieder leidenschaftliche Vergebung. Er bat sie, ihn zu heiraten, aber sie spürte, dass das unmöglich war. Der Altersunterschied, ihre Arbeit, dazu seine Vorstellungen von einer Ehefrau – sie wusste, dass sie diese Rolle nie erfüllen könnte – standen dem im Weg. Guggenheim kam genau zur richtigen Zeit, und sie machte sich wieder auf in die Karibik und ließ Punter zurück.“(S. 347)



„Als sie in Manhattan ankam, wurde sie von einem Strudel aus literarischen Veranstaltungen, Glückwunschschreiben und Zeitungsbesprechungen sowie einem Eintrag in „Who`s who in America“ geradezu überwältigt. Etliche Jahre früher hatte Margaret Mead gemeinsam mit weiteren Studentinnen vom Barnard College vor der Haustür eines ihrer Idole, Edna St Vincent Millay, Blumen abgelegt. Nun war es Millay, die an Hurston ein überschwängliches Telegramm schickte. Grund war die Veröffentlichung des Romans in jenem September, der auf Haiti aus Hurston geradezu herausgeströmt war. Sie gab ihm den Titel „Vor ihren Augen sahen sie Gott“. (S. 246)






2. Kapitel:   Boas

Vor einiger Zeit entdeckte ich das Buch „Schule der Rebellen“ von Charles King, das von dem Ethnologen Franz Boas (1858-1942) handelt.

Seinem Buch hat Charles King zwei Zitate voran gestellt, eins davon lautet folgendermaßen:

„Eine neue wissenschaftliche Wahrheit pflegt sich nicht in der Weise durch zu setzen, dass ihre Gegner überzeugt werden und sich als belehrt erklären, sondern vielmehr dadurch, dass ihre Gegner allmählich aussterben und dass die heranwachsende Generation von vornherein mit der Wahrheit vertraut gemacht ist.“ Max Planck, Physiker, 1948


„Dieses Buch erzählt von Frauen und Männern, die sich an vorderster Front des größten moralischen Kampfes unserer Zeit sahen: dem Kampf zu beweisen, dass – allen Differenzen von Hautfarbe, Geschlecht, Fähigkeiten oder Gebräuchen zum Trotz – die Menschheit etwas Unteilbares ist“ 

Einer davon war Franz Boas, geboren 1858 in Minden in Westfalen.

King schreibt:

„Selbst in einem relativ rückständigen Ort wie Minden spürten die Menschen der Generation von Boas noch immer das Nachglühen der Aufklärung. Schiller und Goethe waren nur wenige Jahrzehnte zuvor gestorben. Der preußische Naturforscher, Reisende und Philosoph Alexander von Humboldt – „der größte Mann seit der Sintflut“ wie ein Beobachter meinte – bildete, obwohl durch einen Schlaganfall beeinträchtigt, ein lebendes Bindeglied zu den Philosophes des 18. Jahrhunderts. Die Ideen, die diese Männer verfochten hatten – vernünftig aufgebaute Debatten, verantwortungsvolle Regierungen, Lebeweisen, die von unvoreingenommenen Standpunkten geleitet wurden - , hatten die größte Welle freiheitlicher Revolutionen inspiriert, die Europa je gesehen hatte.

1848, zehn Jahre vor Boas Geburt, waren bewaffnete Aufstände über ganz Europa hinweg gerast und hatten vom Atlantik bis zum Balkan autokratische Herrscher bedroht. Studenten, Arbeiter, Intellektuelle und Kleinbauern forderten Gerechtigkeit und Reformen.“


„Als einziger Sohn in einem Haushalt mit vielen Schwestern war der junge Franz ein Grund zur Verzweiflung für seinen zupackenden Vater und ein Sorgenkind für seine in ihn vernarrte Mutter. Er neigte dazu, in seinen eigenen Gedanken zu leben.“

Sein Leben, sein Studium und seine Doktorarbeit führten ihn dazu, heraus zu finden, nicht, was die natürliche Welt tut, „sondern wie wir für uns festlegen, was sie „unserer Meinung nach macht“.

Wie wir für uns festlegen, was sie unserer Meinung nach macht.“

„Bereits kurz nach seiner Dissertation verfasste Boas einen Plan, für eine eigene wissenschaftliche Expedition: Er plante das Studium der Bewegungsmuster der einheimischen Völker, die auf Baffin Island lebten, der fünftgrößten Insel der Welt.“

Boas Studien über viele Jahre und seine wissenschaftliche Karriere, die ihn nach New York an die Columbia Universität führte, brachten ihn mit der Zeit zu einer Position, die zur aufkommenden Rassenlehre in den USA in eklatantem Widerspruch stand.


„In der Ethnologie dreht sich alles um Individualität“ folgerte Boas „Das wichtigste Ziel ethnologischer Sammlungen besteht für mich in der Vermittlung der Tatsache, dass Zivilisation nicht etwas Absolutes ist, sondern etwas Relatives, dass unsere Ideen und Konzepte nur so weit wahr sind, wie unsere eigene Zivilisation reicht.“ 

Diese Ansicht stand im Gegensatz zur gängigen Wissenschaft, die von Genetikern wie Morgan, Powell und anderen vertreten wurde. Man dachte, … wenn der Mensch sich eindeutig „aus früheren Versionen (homo sapiens) entwickelt hatte“ könnte schon „der Blick in alle Welt, auf wilde und barbarische Gesellschaften, Hinweise darauf liefern, wie der zivilisierte Mensch in früheren Entwicklungsstadien ausgesehen hatte.“

Aha: „wilde Barbaren heute“ so waren wir gestern! 

Den langen Weg, den wir „Zivilisierte“ von der Barbarei gehen mussten, müssen diese „Barbaren noch einmal gehen...

Welch ein Irrtum!

Wolle man wirklich begreifen, so Boas, was in einem Kwakiutl Dorf oder einem Inuit Lager vor sich gehe, müsse man so intensiv wie möglich versuchen, sich von den vorherrschenden Meinungen zu befreien, die in der eigenen Umgebung üblich seien. Man müsse darum kämpfen, neuen Denkrichtungen und einer neuen Logik zu folgen, um neue Gefühle zu erlernen.Man sei sonst lediglich auf die eigene Voreingenommenheit fixiert, die durch den Spiegel der Kultur eines anderen auf einen selbst zurückstrahle,“ ( S. 127)

Wandte man diese Methoden auf das an, was Reisende, Journalisten und auch diejenigen, die sich als Anthropologen bezeichnen, zumeist über primitive Völker sagten, würde man, wie Boas schrieb, erkennen, dass der Großteil dieser Kommentare Unsinn sei. Menschen aus Stammesgesellschaften gälten oft als träge; was aber wäre, wenn sie nur faul wären, sobald es um Dinge ginge, die für sie nicht wichtig seien? Warum sollten wir erwarten, dass sich jedes Volk auf der Welt notwendigerweise mit denselben Dingen und dem gleichen Eifer befasse und sich denselben Projekten mit gleicher Sorgfalt und Hingabe nähere?“

Jede Gesellschaft müsse mit Blick auf ihre Vergangenheit verstanden werden: auf das, was sie an Isolation, Kontakt oder Migration übernommen habe. Moderne Gesellschaften mögen gebildet und geschichtsbewußt sein und in ihrer eigenen Komplexität schwelgen; das bedeute aber nicht, dass vormoderne Gesellschaften deshalb einfacher strukturiert seien und sich nicht veränderten. Sie existierten nicht in einem zeitlosen natürlichen Zustand, wie eine stehen gebliebene Armbanduhr, die auf die Ankunft zivilisierter Menschen warten, die diese Gesellschaften zum Leben erweckten. Forscher sollten ihre Feldforschung nicht mit der Annahme beginnen, eine Gesellschaft zu betrachten, die seit Anbeginn der Zeit mehr oder weniger unverändert geblieben sei. Vielmehr betrachteten die Feldforscher nur den gegenwärtigen Abschnitt einer langen Geschichte der Differenzierung, Diffusion und Vermischung. Instabilität und Bewegung.

Übernahmen und Moden seien in primitiven Gesellschaften genau so üblich wie am Broadway, wenn man wisse, wonach man suche, so Boas“ (S.38)

Zur Entstehung der „Wissenschaft“ von Rassen:

„Das erklärte Ziel war es, die Menschen exakt nach den Körpermerkmalen zu katalogisieren, die sie voneinander unterscheiden.“

„Die grundsätzliche Theorie, die der anthropometrischen Arbeit zugrunde lag,“ also dem Vermessen von Köpfen, „bestand in der Überzeugung, dass körperliche Unterschiede Hinweise auf eine ganze Reihe weiterer Themen lieferten, die gegenwärtig von Interesse wären, von der öffentlichen Gesundheit bis zur Intelligenz.“ (S. 83)

King dazu: „Der eigentlich Trick“ dieser Wissenschaft von Rassen sei „die weiße Bevölkerung auf diese Weise in bessere und schlechtere Sorten von Mensch einteilen zu können.“

Grant, der Verfechter dieser „Wissenschaft“ fürchtete, dass die „Leitgedanken der Nächstenliebe und der wirkliche Gefühlsüberschwang, die Millionen minderwertiger Europäer ins Land ließen, die Nation dem Rassenverfall zutreib(e). Amerika würde mit Sicherheit “den Weg der Griechen und Römer gehen, die durch eine Invasion Niedrigstehender von der Bühne der Weltgeschichte vertrieben worden seien.“

Durch diese „wissenschaftlichen“ Entwicklungen begünstigt, die bei King sehr schön ausführlich erzählt werden, möchte ich nur eine folgenschwere Entwicklung erwähnen , die in den USA zur Segregation von Hautfarben führte. King schreibt: „ Das US – Gerichtssystem entwickelte eine zum autoritären Apartheidsystem, genannt Jim Crow, passende „umfangreiche Rechtssprechung, die die weiße Hautfarbe zu einer eindeutigen Rechtskategorie machte“ (S. 106)

„Die Folgen dieser Urteile waren unmittelbar spürbar. Ob man Eigentum in einer rassenbeschränkten Nachbarschaft erwerben konnte, in einem rassenbeschränkten Krankenhaus Kinder gebären, ein Kind an einer rassenbeschränkten Schule einschreiben oder auf einem rassenbeschränkten Friedhof begraben werden konnte, wurde dadurch festgelegt. So schien es, als seien Jim Crow und die Rassenurteile weniger das Erbe der Sklaverei, sondern vielmehr modern, national und angeblich natürlich, zudem beruhend auf den neuesten Ergebnissen der Rassenwissenschaft.“


„Einwanderer verwässerten die nationale Lebenskraft und brachten politischen Extremismus hervor. Tiere verdienten Freundlichkeit, und die nur knapp über den Tieren rangierenden scheinbar primitiven Völker zwar Hilfe, aber keinen Respekt.“ 

Zusätzliche Gründe für diese Art von Rassenlehre waren auch die hohe Einwandererzahl z.B. in New York, die „nach Madison Grant möglicherweise zu einer ausländischen Verschwörung gehörten, die planten, die „große Rasse“ zu schwächen.

Eine Gruppe von Republikanern, Demokraten und Plantagenbesitzern machten sich auf zu „einer Dampfschifffahrt nach Neapel, Marseille und Hamburg, neben weiteren europäischen Hafenstädten. Dort sahen sie herunter gekommene Internierungslager voller Italiener, Griechen und Syrer, die allesamt bereit waren, skrupellosen Kapitänen jede gewünschte Summe für die Fahrt über den Atlantik zu zahlen.“ Allerdings entdeckten sie keinerlei Hinweise auf eine Verschwörung.

Zurück in den USA bekam Boas den Auftrag, einen Bericht über die Einwanderung verschiedener Rassen abzufassen. Er antwortete sofort mit dem Vorschlag, die „körperlichen Veränderungen bei den Einwanderern zu untersuchen, die erst kürzlich in den Vereinigten Staaten angekommen wären. Würden sie sich einem allgemeinen amerikanischen Typus anpassen ? Oder waren die den verschiedenen europäischen Rassen gemeinsamen Eigenschaften so machtvoll, dass sie über Zeit und Entfernung hinweg überleben“ würden?

Die Untersuchungen brachten folgende Ergebnisse: „Rassen seien instabil, so die Schlussfolgerung Boas. Und wenn sie im gegenwärtigen Augenblick keine Realität darstellten, konnten sie auch in der Vergangenheit nicht existiert haben. Dies bedeute, dass jede Geschichte der Menschheit, die sich als großer Wettbewerb der Rassen begriff, im Prinzip falsch war. Wenn es keine physische Permanenz des Rassenkonzepts gab, - zumindest, wie Rasse weithin definiert wurde, dann konnte es auch keine Bündelung von Eigenschaften unter diesem Begriff geben, wie etwa Intelligenz, Begabung, körperliche Eignung, kollektive Tauglichkeit oder Eignung für zivilisatorischen Fortschritt.“


Heute wissen wir, dass Boas recht hatte, dennoch geistert diese „einzige oder sollte man sagen "einseitige" Geschichte“ der „Rassen“ noch in vielen Köpfen in Form von Vorurteilen herum. Die Idee der Überlegenheit von Menschengruppen über andere Menschen scheint eine fatale Anziehungskraft zu haben. 

Für mich ist in all diesen Zitaten dieser Satz der Entscheidende:

„ ...wenn sie nur faul wären, sobald es um Dinge ginge, die für sie nicht wichtig seien? Warum sollten wir erwarten, dass sich jedes Volk auf der Welt notwendigerweise mit denselben Dingen und dem gleichen Eifer befasse und sich denselben Projekten mit gleicher Sorgfalt und Hingabe nähere?“

Jede Gesellschaft müsse mit Blick auf ihre Vergangenheit verstanden werden: auf das, was sie an Isolation, Kontakt oder Migration übernommen habe. Moderne Gesellschaften mögen gebildet und geschichtsbewußt sein und in ihrer eigenen Komplexität schwelgen; das bedeute aber nicht, dass vormoderne Gesellschaften deshalb einfacher strukturiert seien und sich nicht veränderten. Sie existierten nicht in einem zeitlosen natürlichen Zustand, wie eine stehen gebliebene Armbanduhr, die auf die Ankunft zivilisierter Menschen warten, die diese Gesellschaften zum Leben erweckten. Forscher sollten ihre Feldforschung nicht mit der Annahme beginnen, eine Gesellschaft zu betrachten, die seit Anbeginn der Zeit mehr oder weniger unverändert geblieben sei. Vielmehr betrachteten die Feldforscher nur den gegenwärtigen Abschnitt einer langen Geschichte der Differenzierung, Diffusion und Vermischung. Instabilität und Bewegung.“











Die Gefahr einer einzigen Geschichte (Chimananda Ngozi Adichie) (The danger of a single story)


  1. Kapitel   Adichie


Die nigerianische Romanautorin Chimananda Ngozi Adichie hat bei ted x einen Vortrag gehalten über „The danger of a single story“ „Die Gefahr einer einzigen Geschichte“

Darin erzählt sie, dass sie mit 18 Jahren nach Amerika kam, um dort zu studieren.

„ Meine amerikanische Zimmergenossin war mit mir überfordert. Sie fragte mich, wo ich so gut Englisch zu sprechen gelernt hatte, und war verwirrt als ich ihr sagte, dass in Nigeria zufälligerweise Englisch die Amtssprache ist. Sie fragte, ob sie das, was sie meine "Stammesmusik" nannte, hören dürfe, und war dementsprechend sehr enttäuscht, als ich meine Kassette von Mariah Carey hervorholte. (Gelächter) Sie nahm an, dass ich nicht wusste, wie man einen Herd bedient.

Was mich wirklich betroffen machte: Sie hatte Mitleid mit mir, bevor sie mich überhaupt gesehen hatte. Ihre Grundhaltung mir gegenüber als Afrikanerin war eine Art gönnerhaftes, gut meinendes Mitleid. Meine Zimmergenossin kannte nur eine einzige Geschichte über Afrika. Eine einzige verhängnisvolle Geschichte. Diese einzige Geschichte enthielt keine Möglichkeit für Afrikaner, ihr in irgendeiner Weise ähnlich zu sein. Keine Möglichkeit für vielschichtigere Gefühle als Mitleid. Keine Möglichkeit für eine Beziehung als gleichberechtigte Menschen.

..Ich denke, diese einzige Geschichte Afrikas stammt letztlich aus der westlichen Literatur. Nun, hier ist ein Zitat aus den Schriften eines Londoner Kaufmanns namens John Lok, der 1561 nach Westafrika segelte und faszinierende Aufzeichnungen seiner Reise machte. Nachdem er die schwarzen Afrikaner als "Bestien, die keine Häuser haben" bezeichnet, schreibt er: "Es sind auch Menschen ohne Köpfe, die Mund und Augen in ihrer Brust haben." 

Ich muss jedes Mal lachen, wenn ich das lese. Und man muss die Vorstellungskraft von John Lok bewundern. Aber was seine Aufzeichnungen so wichtig macht, ist, dass sie den Anfang einer Tradition darstellen, Geschichten über Afrika im Westen zu erzählen. Eine Tradition von Schwarzafrika als ein Ort von Schlechtem, von Unterschieden, von Dunkelheit, von Menschen die, mit den Worten des grandiosen Poeten, Rudyard Kipling,"halb Teufel, halb Kind" sind.

Und langsam wurde mir klar, dass meine amerikanische Zimmergenossin während ihres Lebens unterschiedliche Versionen dieser einzigen Geschichte gehört und gesehen haben musste, genau wie dieser Professor, der mir einmal sagte, dass mein Roman nicht "authentisch afrikanisch" sei., ich war schon bereit zuzugeben, dass einige Dinge in dem Roman nicht stimmten, dass er an einigen Stellen misslungen war. Aber ich konnte mir wirklich nicht vorstellen, dass er nicht das geworden war, was man authentisch afrikanisch nannte. Ich wusste tatsächlich nicht, was afrikanische Authentizität war. Der Professor sagte mir, dass meine Charaktere ihm, einem gebildeten Mann aus der Mittelschicht zu sehr ähnelten. Meine Charaktere fuhren Autos. Sie hungerten nicht. Deshalb waren sie nicht authentisch afrikanisch.


Ich hatte immer das Gefühl, es sei unmöglich, sich richtig mit einem Ort oder einer Person zu beschäftigen, wenn man sich nicht mit allen Geschichten dieses Ortes oder dieser Person beschäftigt. Die Folge der einzigen Geschichte ist diese: Es beraubt die Menschen ihrer Würde. Sie erschwert es uns, unsere Gleichheit als Menschen zu erkennen. Sie betont eher unsere Unterschiede als unsere Gemeinsamkeiten....





Für mich ist folgender Satz ein Schlüsselsatz für meine Vorstellung davon, was Adichie gemeint hat:

„ Diese einzige Geschichte enthielt keine Möglichkeit für Afrikaner, ihr in irgendeiner Weise ähnlich zu sein. Keine Möglichkeit für vielschichtigere Gefühle als Mitleid. Keine Möglichkeit für eine Beziehung als gleichberechtigte Menschen.“




Das ist es, was mich verblüfft und zum Nachdenken gebracht hat. 



In Kapstadt lernte ich die schwarze Schmuckverkäuferin Diana kennen, die ich unterstützen wollte, indem ich ihre Waren, Schmuck und dergleichen, abkaufte und hier unter meinen Freundinnen weiter verkaufte und verschenkte. Am Anfang hatte ich das Gefühl, ihr alles Mögliche beibringen zu müssen, obwohl ich nie in ihrem Gewerbe gearbeitet hatte. Sie besaß kein Handy und war nicht mit dem Internet vertraut. Um ihr auf Augenhöhe zu begegnen, handelte ich mit ihr und vermied es, mich als „reiche Europäerin“ dar zu stellen, die ihr mit milden Gaben „helfen“ wollte.

Um ehrlich zu sein, machte mir der „Handel“ Spaß. Mit der Zeit lernten wir, digital zu kommunizieren, etwas holperig manchmal, aber immer erfolgreich. Sozusagen immer entlang an den Versuchen, Lösungen zu finden.

Fast unbewusst kam es mir vor, als ob wir viele Gemeinsamkeiten besäßen, sie war eine Frau, wie ich, beide hatten wir viele Erfahrungen in unserem Leben gemacht, waren nicht mehr jung und versuchten, aus unserem Leben das Beste zu machen.

Dieses Gefühl der Gemeinsamkeiten war mir wichtig, um nicht der „einseitigen Geschichte“ des Mitleids und der „herablassenden Hilfe“ zu erliegen.

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