Schwimmen gehen
Meine Frau arbeitet zu Hause: Homeoffice. Wir stören und sollen den Nachmittag im Freibad verbringen. „Ich brauche mindestens vier Stunden Ruhe“, sagt sie. Also gehe ich mit meinem fünfjährigen Sohn in das Freibad meiner Jugend. Das Bad liegt direkt neben dem Friedhof. Auf einer großen Reklametafel, die zwischen den beiden öffentlichen Orten steht, wirbt der Stadtteil-Konditor mit dem Slogan: 'So gut, dass die Toten auferstehen!'. Auf dem Plakat steigt eine lachende Frau im Bikini aus einer rosafarbenen Torte. Hier in Rahlstedt sind die Wege kurz. Alles liegt nah beieinander: Vergnügen und Tod, gestern und heute. Als ich jung war, war das Bad nur eine mit Regenwasser vollgelaufene Tongrube. Vor einiger Zeit hat die Stadt weißen Sand aufgeschüttet. Die Tongrube heißt jetzt 'Kupa piti' und ist ein Beach Club, wo die Leute in Liegestühlen am Wasser sitzen und Cocktails trinken. Alles wirkt noch provinzieller als zu meiner Zeit. Am Strand breiten wir unsere Handtücher aus. Mein Sohn stupst mich an, als wir uns umziehen:„Papa, erzähl von früher, als du hier schwimmen warst!“Also erzähle ich von der Eisenbahn, die auf dem Seegrund verrostet. Und ich erwähne das Flugzeug, das im 2.Weltkrieg notlanden wollte, aber im See versank. Ich berichte von dem riesigen Wels, der tief unten im Schwarzwasser lebt. Schwimmt man zu weit hinaus, kitzelt er einen zunächst mit seinen Barteln, dann beißt er dem Schwimmer in die Füße und zieht ihn schließlich ins Dunkel hinab.Und ich erzähle von den eiskalten Strömungen, die dem See unterirdisch zufließen, so dass man augenblicklich schock gefrieren und ertrinken kann, hat man das Pech, in solch eine Strömung zugeraten. Mein Sohn steht in seiner Badehose direkt am Ufer. Das Wasser ist zehn Zentimeter von seinen Zehenspitzen entfernt, aber er macht keine Anstalten sich weiter nach vorne zu bewegen.„Willst du nicht reingehen?“, frage ich. Mein Sohn schüttelt den Kopf. Er will ein Eis . Dann schwimme ich eine Runde. Mein Sohn bleibt mit seinem Eis auf dem Handtuch sitzen. Nach einer Viertelstunde bin ich zurück und trockne mich ab. Wir packen zusammen. „Gibt es denn keine guten Geschichten von dem See?“, fragt mein Sohn, als wir aus dem Freibadgehen. „Etwas mit Tieren? Aber mit netten Tieren?“„Doch“, sage ich. „Es gibt eine Seehundgeschichte. Denn einmal hatte sich ein Seehund ins Freibad verirrt“, erzähle ich. „Das war ein extremer Winter, als sogar die ins Freibad einfließende Wandse zugefroren war. Und der See selbst war natürlich auch zugefroren. Niemand wusste, woher der Seehund kam. Der Seehund lag ganz gemütlich auf den Eisschollen. Und von Zeit zu Zeit schlüpfte er durch ein Loch im Eis und fing sich einen Fisch. Aber dann hat ihn ein verrückter Angler erschossen. Das Seehundblut, so ein kräftiges Rot auf dem Weiß, das konnte man noch wochenlang auf den Eisschollen sehen.“„Seehundblut“, murmelt mein Sohn. „Wie hieß denn der Seehund, Papa?“„Na, das ist ja eine alte Geschichte“, sage ich, „Da war ich noch ein kleiner Junge. Vielleicht hieß der Seehund Wolfgang, so wie Opa?“, schlage ich vor. Mein Sohn sieht mich an und schüttelt den Kopf. „Nein“, sagt er. „Nicht Wolfgang - ich glaube, der Seehund hieß Fuchsgang.“ „Ja, dann eben Fuchsgang. Kann schon sein“, sage ich. Im selben Moment denke ich, dass ich mich schon unendlich weit vom Kindsein entfernt habe. „Erzähl noch mehr von früher, Papa!“, drängelt mein Sohn.„Na gut“, sage ich. „Wenn ich in den Sommerferien bei meiner Oma zu Besuch war, musste ich sie überallhin begleiten. Sie ging mit mir zur Post, zum Supermarkt, überallhin. Und sie ging in etwa so.“ Ich gehe nun so zügig, dass mein Sohn neben mir her galoppieren muss. Er lacht. Höre ich auf, so schnell zu gehen, sagt er: „Мach wieder so, wie die Oma geht!“„Ihr seid aber schnell wieder da“, wundert sich meine Frau als wir zur Haustür hereinkommen. Wir waren keine Stunde weg. „Im Freibad – da war zu viel Seehundblut“, sagt mein Sohn. Ich nicke.
Marita Lamparter
Oh, Maria Hilf!
„Die sind evangelisch“, flüstert Maria, dabei zieht sie an ihren langen blonden Zöpfen.
„Wer?“, fragt Sylvia.
„Die Neuen da“, sie zeigt in die Schulhofecke.
Die drei neuen Kinder sind Geschwister. Sie stehen schüchtern auf dem kleinen Schulhof der Dorfschule. Niemand fragt die Neuen, ob sie mitspielen wollen. Sie sehen ganz normal aus.
„Die glauben was anderes, hat meine Mutter gesagt“, Maria weiß immer alles.
Das hört Sylvia zum ersten Mal: Dass man was anderes glauben kann.
„Die glauben auch an Jesus, aber nicht an Maria und den Papst.“
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„Nicht?“, Sylvia weiß nicht, was sie denken soll.
Die Marienfigur ist doch das Schönste in der kleinen Kirche.
„Sie beichten auch nicht“, flüstert Maria weiter.
„Und was passiert dann mit ihren Sünden?“
„Weiß ich auch nicht“, Maria zieht die Schultern hoch.
Die Josefkirche überragt das Schulgebäude mit ihrem grauen, wuchtigen Turm, Kirche und Schule stehen eng beieinander.
In diesem Schuljahr gehen 52 Kinder auf die Schule.
Es gibt nur zwei Klassen, eine für die Jahrgänge eins bis vier, eine weitere Klasse für die großen Jahrgänge vier bis acht. Da es in katholischen Familien üblich ist, die ältes- te Tochter Maria zu nennen, heißen die meisten Mäd- chen in der Klasse Maria. Und um sie unterscheiden, werden Zusätze angehängt: Maria Zöpfe, Maria Kanal, Maria kleiner Hof.
Die anderen Mädchen heißen Erika und Annegret. Sylvia, schon der Name wird im Dorf als arrogant empfunden,
„Was glauben die denn? Soll die mal einen Prinz heiraten?“ So reden die Leute über Sylvia.
„Dann kamen die Protestanten, die gegen den Papst protestierten. Die waren gegen den Papst. Kann man gegen den Papst sein?“
„Nein“, rufen die Kinder im Chor.
Lehrer Högemann geht vor der Klasse energisch auf und ab:
„Die Protestanten haben die Heiligenbilder verbrannt, die Marienfiguren zerstört und anschließend Nonnen geheiratet. Später gab es deswegen 30 Jahre Krieg.“
Der kleine Herbert fängt an zu weinen, wegen der Heiligenbilder, die er so gern sammelt und die zu verbrennen drohen.
Sylvia muss an Schwester Vincentia denken, die Nonne in der Familie. Vincentia soll heiraten?
Lehrer Högemann wippt auf seinen Füßen: „Ja, Kinder, so ist es dann gekommen: Es gibt heute zwei Kirchen. Aber es gibt nur eine richtige katholische Kirche.“
„Gott sei Dank sind wir in der richtigen“, denkt Sylvia. Lehrer Högemann blickt zufrieden in seine Klasse:
„Die Evangelischen kommen leider direkt in die Hölle. Aber sie können immer zurückkommen in den Schoß der Kirche. Denkt an die Geschichte vom verlorenen Sohn.“
Die evangelischen Kinder senken die Köpfe.
Lehrer Högemann, der nebenamtlich auch die Filiale der Dorfsparkasse in seinem Wohnzimmer leitet, unterrichtet Religion, Heimatkunde und Rechnen. Seine Zensuren stehen oft in einem direkten Verhältnis zu den Sparbüchern seiner Schützlinge. Wer gut spart, kann auch gut rechnen
„Jetzt wollen wir Rechenübungen machen.“
„Man sieht es doch gleich.“
„Was?“, fragt Fräulein Winter.
„Eine andere Religion. Schauen Sie, wir Katholiken haben doch ein ganz anderes Verständnis zu unserem Körper.“ Sylvia versteht es nun, die Evangelischen sehen genauso aus, aber haben doch andere Körper.
Fräulein Winter ist eine milde, gütige Person, der Krieg hat sie in dieses winzige westfälische Dorf am nördlichen Dortmund-Ems-Kanal verschlagen. Sie ist froh, den Krieg überstanden zu haben und wieder ihren Beruf ausüben zu können. Auch wenn das Unterrichten der Bauernkinder sie erschöpft. Manchmal fragt sie sich, was Högemann wohl im Krieg gemacht hat. Aber sie ist müde, sie sagt:
„Seien Sie nicht so streng. Es sind doch Kinder.“
Sylvia hat in der Pause ein neues Marienbild eintauschen können. Eins mit der Aufschrift „Oh, Maria Hilf.“
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